Es wiegt kaum mehr als eine Münze, nämlich 1,25 Gramm. Aber wenn man es auffordert, etwas anzuheben, schafft dieses winzige Stück Polymer, was kein menschlicher Muskel leisten kann: Es trägt 5 Kilo, 4000-mal so schwer. Es ist kein Zirkustrick. Es ist das Ergebnis jahrelanger Forschung an intelligenten Materialien, die ihren Zustand verändern, als hätten sie eine Persönlichkeit. Weich, wenn Flexibilität gefragt ist, starr, wenn es darum geht, eine Last zu tragen. Ein bisschen wie ein Kollege, der erst aufwacht, wenn ihm der Rücken gebrochen werden muss. Nur dass dieser Kollege ein magnetischer Aktuator ist, entwickelt vonUNIST-Universität in Südkorea und könnte unsere Denkweise über Roboter, Prothesen und Wearables verändern.
Das Problem mit weichen Aktuatoren: entweder stark oder flexibel
Künstliche Muskeln waren schon immer eine Frage des Kompromisses. Sie können ein weiches und anpassungsfähiges Material haben, das sich perfekt für die Interaktion mit Menschen eignet, ohne sie zu verletzen, oder einen starren und leistungsstarken Aktuator, der schwere Lasten heben kann.Aber niemals beides gleichzeitig. Es ist das klassische Problem der Softrobotik: Flexible Materialien versagen unter Belastung, starre passen sich nicht an komplexe Umgebungen an. Hoon Eui Jeong, Professor für Maschinenbau an der UNIST, beschloss, dieses prekäre Gleichgewicht zu durchbrechen. Sein Team veröffentlichte die Ergebnisse in Fortgeschrittene Funktionsmaterialienund beweist damit, dass man alles haben und gleichzeitig essen kann. Oder besser gesagt: ein Muskel, der aus Gummi besteht, wenn es nötig ist, und aus Stahl, wenn es darauf ankommt.
Das Geheimnis liegt im Doppelgitterpolymer. Es ist kein völlig neues Konzept, aber hier wurde es mit einer Eleganz umgesetzt, die den Unterschied macht. Das Material verwendet chemische kovalente Bindungen für die tragende Struktur, die mechanische Festigkeit gewährleisten, und thermosensitive physikalische Wechselwirkungen für Flexibilität. Diese formen und brechen je nach Temperatur, sodass sich der Muskel auf Befehl erweichen oder anspannen kann. Fügt man oberflächenbehandelte magnetische Mikropartikel hinzu, erhält man einen Aktuator, der millimetergenau auf externe Magnetfelder reagiert.
Im versteiften Zustand unterstützt dieser 1,25 Gramm schwere Muskel 5 kgIm erweichten Zustand dehnt es sich zu 12 mal seine ursprüngliche Länge. Während der Kontraktion hebt es Gewichte mit einer Verformung der86,4%, mehr als das Doppelte der etwa 40% der menschlichen Muskeln. Die Arbeitsdichte erreicht 1150 kJ/m³, 30-mal höher als die von biologischem Muskelgewebe.
So funktioniert die Steifigkeitsänderung
Der Trick liegt im zweischichtigen Polymernetzwerk. Stellen Sie sich eine Struktur aus Stahlträgern (die kovalenten Bindungen) und elastischen Schnüren (die physikalischen Wechselwirkungen) vor. Bei Kälte versteifen sich die Schnüre und alles wird fest. Bei Hitze werden die Schnüre weicher und die Struktur kann sich verformen. Nur sprechen wir hier nicht von Umgebungswärme und -kälte, sondern von kontrollierte thermische Reize die einen blitzschnellen Wechsel von einem Zustand in einen anderen ermöglichen. Magnetische Mikropartikel erledigen den Rest: Sie reagieren auf externe Magnetfelder und ermöglichen die berührungslose Steuerung der Bewegung des Aktuators.
Das Tolle daran: Dieses System benötigt weder schwere Batterien noch lästige Kabel. Die Fernsteuerung erfolgt über Magnete. Perfekt für Anwendungen, bei denen Gewicht und Größe eine Rolle spielen: fortschrittliche Prothetik, Roboter-Exoskelette, tragbare GeräteSolange ein Magnetfeld in der Nähe ist, reagiert der Aktuator. Soll er etwas anheben? Er versteift sich. Soll er sich biegen? Er wird weicher. Wie ein biologischer Schalter, nur ohne die Biologie.
Anwendungen: von humanoiden Robotern bis zur Prothetik
Wo wird ein solcher künstlicher Muskel eingesetzt? Überall dort, wo feine Interaktion und rohe Kraft im selben System benötigt werden. kollaborative Roboter Cobots sind hierfür ideale Kandidaten: Sie müssen mit Menschen zusammenarbeiten, ohne diese zu verletzen, und gleichzeitig industrielle Lasten heben. Bislang war dies eine unlösbare Aufgabe. Bei Aktuatoren mit unterschiedlicher Steifigkeit verlagert sich das Problem vom Material auf die Steuerung: Sie müssen lediglich programmieren, wann die Steifigkeit erhöht und wann sie verringert werden soll.
Le Roboterprothesen sind ein weiteres offensichtliches Feld. Wie bereits bei den italienischen GRACE-Muskeln gesehenAktuatoren, die biologische Muskeln nachahmen, ermöglichen natürlichere und präzisere Bewegungen. Doch die koreanischen Modelle gehen noch weiter: Sie imitieren nicht nur, sie übertreffen sie. Eine mit diesen Aktuatoren ausgestattete Roboterhand könnte ein Kristallglas greifen, ohne es zu zerbrechen, und dann einen 20 Kilogramm schweren Koffer heben. Und das alles mit demselben Satz „Muskeln“.
Dann gibt es die tragbare Geräte Für die Rehabilitation. Exoskelette unterstützen Menschen mit motorischen Behinderungen, Roboteranzüge für das Heben schwerer Lasten und Handschuhe, die die Griffkraft verstärken. In allen Bereichen ist Flexibilität erforderlich, um menschlichen Bewegungen zu folgen, und Kraft, um die Anstrengung zu unterstützen. UNIST-Aktuatoren könnten diese Geräte leichter, kompakter und energieeffizienter machen.
Die Zahlen, die zählen
Vergleichen wir dies einmal direkt. Ein durchschnittlicher menschlicher Muskel kontrahiert um etwa 40 %, entwickelt eine Arbeitsdichte von etwa 40 kJ/m³ und kann (im besten Fall mit Training) Lasten bis zum 30-fachen seines Eigengewichts tragen. Der koreanische Aktuator kontrahiert um 86,4 %, entwickelt 1150 kJ/m³ und trägt das 4000-fache seines Eigengewichts. Es handelt sich nicht um eine schrittweise Verbesserung, sondern um einen Paradigmenwechsel.
Professor Jeong sagt es deutlich in der Studie veröffentlicht im September 2025Diese Forschung überwindet die grundlegende Einschränkung, dass herkömmliche künstliche Muskeln entweder hoch dehnbar, aber schwach oder stark, aber starr waren. Besonders wichtig ist die Arbeitsdichte: Sie gibt an, wie viel Energie pro Volumeneinheit der Muskel liefern kann. Hohe Werte bei gleichzeitig hoher Dehnbarkeit zu erreichen, war schon immer eine Herausforderung. Es ist vergleichbar mit dem Versuch, ein Gummiband zu konstruieren, das gleichzeitig ein Stahlstab ist. Diesen Forschern ist es gelungen.
Die Forschung wurde gefördert durch die Nationale Forschungsstiftung von Korea und stellt einen bedeutenden Fortschritt im Bereich der Softrobotik dar. Die entwickelten Aktuatoren könnten in den kommenden Jahren Anwendung finden in humanoide Roboter, industrielle Handhabungssysteme e fortschrittliche medizinische Geräte.
Aktoren und Muskeln 2.0: Was fehlt noch?
Natürlich ist nicht alles Gold. Laborprototypen funktionieren unter kontrollierten Bedingungen sehr gut, aber die reale Welt ist komplizierter. Wie lange halten diese Aktuatoren unter wiederholter Belastung? Wie kommen sie mit extremen Temperaturen, Feuchtigkeit und Vibrationen zurecht? Und vor allem: Wie viel kostet ihre Produktion im industriellen Maßstab? Die Studie geht nicht auf diese Details ein, aber diese Fragen werden sich bald stellen.
Dann ist da noch das Problem der Steuerung. Die Steifigkeit zu ändern ist zwar nützlich, erfordert aber ein ausgeklügeltes Steuerungssystem, um den richtigen Zeitpunkt dafür zu bestimmen. Bei einem Laufroboter beispielsweise muss jedes Bein Dutzende Male pro Sekunde steifer und wieder lockerer werden, synchron mit den anderen. Sensoren, Algorithmen und Echtzeit-Feedback sind dafür nötig. Die Materialtechnologie ist bereit. Die Steuerungstechnologie muss sich jedoch noch weiterentwickeln.
Schließlich stellt sich die Frage der Standardisierung. Jedes Labor entwickelt seinen eigenen Aktuator mit leicht unterschiedlichen Materialien und Verfahren. Gemeinsame Standards, reproduzierbare Tests und gemeinsame Messgrößen sind erforderlich. Andernfalls bleibt alles auf wissenschaftliche Arbeiten beschränkt, die zwar lesenswert, aber für jeden, der einen echten Roboter bauen möchte, nutzlos sind.
Dennoch ist die Arbeit von UNIST ein wichtiger Schritt nach vorne. Sie löst zwar nicht alle Probleme der Soft-Robotik, aber ein wichtiges: den Kompromiss zwischen Kraft und Flexibilität. Und wenn man ein grundlegendes Problem löst, werden andere leichter zu bewältigen. Oder zumindest weniger unmöglich. Das ist schon ein Erfolg für die wissenschaftliche Forschung.